Liverpool droht der Identitätsverlust

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Seit Jürgen Klopp bei Liverpool gastiert, scheint ganz Deutschland der Liverpool-Mania verfallen zu sein. „The Normal One“ zieht viele mit seinem jugendlichen Charme in seinen Bann. Doch hinter dem strahlenden Lächeln von Kloppo versteckt sich ein Traditionsverein mit äußerst fragwürdigen Geschäftspraktiken. Ein Kommentar von Philip Hell.

Das Dilemma der Tradition

Traditionalisten fordern zumeist Stadien im Herzen einer Stadt. Das sieht zugegebenermaßen auch wirklich schön aus. Das Highbury, das sich aus typisch englischen Backsteinhäusern tempelartig erhebt. Stadien außerhalb des Stadtrandes haben es deutlich schwerer, zu einem mythischen Ort zu werden. Die Allianz Arena hat beispielsweise etwas deprimierendes. Ein Ufo gelandet mitten im Ödland des Münchner Nordens. Das wünscht man keinem Fußball-Fan.

Allerdings beißt sich dieser Wunsch nach der Einbindung eines Fußballtempels in ein Stadtbild immer öfter mit dem Expansionswunsch eines modernen Fußballvereins. Genau mit diesem Dilemma sieht sich der Liverpool FC konfrontiert. Die Tradition dieses Clubs lockt Fußballliebhaber magisch an. Zahlungskräftige Fußballliebhaber. Zahlungskräftige Fußballliebhaber, die Platz brauchen. Platz, den eine Fußballarena nun mal nur begrenzt hat.

Man steht nun als Verein vor einer Zwickmühle. Zum einen möchte man die Zahlungskräftigen zum eigenen Vorteil nutzen. Zum anderen möchte man seine Identität behalten. Welche ja mit ein Grund ist, aus dem die finanzstarken Fußballfans ins Stadion kommen möchten. Aus dieser Motivation entschied sich Liverpool, einem Verein mit sehr starker Identität, wohl gegen den Bau einer neuen Arena ohne Charakter.

Ihr Alternativplan ist jedoch um einiges verwerflicher als eine neue Arena ohne Charakter: Liverpool kauft systematisch Häuser in der Nachbarschaft der Anfield Road, um sein Stadion vergrößern zu können. Das hört sich zunächst nicht besonders schlimm an. Die Methoden der Reds sind jedoch perfide und sie werden den Verein wie einen Boomerang treffen.

Verfall der Moral

Der Liverpool FC kauft die Häuser, um sie systematisch verfallen zu lassen. Das ist für sich schon schlimm. Die ganze Dimension dieses Handelns zeigt sich aber erst, wenn man in die Geschichte der Stadt schaut: In den 80ern war die Stadt am Ende. Die Stadtväter konnten ihre arbeitslose Bevölkerung nicht mehr versorgen. Auch heute zählt die Stadt zu den ärmsten des Landes. Der Liverpool FC ist da ein willkommener Tourismusmagnet.

Doch eben dieser Magnet lässt einen Teil der Stadt willen- und wissentlich verfallen. Es stellt sich wie so oft die Frage. Wann ist Schluss? Nur ein Straßenzug? Oder braucht man doch noch einen Trainingsplatz? Die Gelder aus dem Fernsehgelderboom wird man ja nicht nur in ausländische Spieler investieren.

Es ist auf der einen Seite löblich, dass sich Liverpool der eigenen Tradition bewusst ist – und sein Stadion nicht gegen einen seelenlosen Fußballtempel eintauschen will. Doch der Verfall der Häuser um die Anfield Road zeigt auch einen Verfall der Moral.
Doch die Politik des Vereins in Bezug auf die Erweiterung seines Stadions ist nur symptomatisch für eine äußerst problematische Entwicklung im Fußball.

Galionsfigur oder Mitläufer?

In Liverpool zahlt man mindestens 50 Euro für ein Kategorie-C-Spiel. Das sind Spiele gegen die Aufsteiger. Billiger wird’s für einen Erwachsenen nicht. Klar, Liverpool ist gut. Aber nicht so gut, dass er diesen Preis für den billigsten Platz rechtfertigt. Über 22-jährige bekommen in Großbritannien einen Mindestlohn von 6,90 Euro. Das heißt, sie müssen siebeneinhalb Stunden arbeiten um sich einmal Liverpool gegen Bournemouth ansehen zu können. Das magere 1:0 der Reds inklusive.

Da stimmt etwas grundlegend nicht. Einen ganzen Tag arbeiten für ein Fußballspiel. Das kann es einfach nicht sein. Dieser Fakt zeigt, dass der traditionsreiche Arbeiterverein FC Liverpool mittlerweile nur noch ein Mitläufer im schwindelerregenden Karussell des neoliberalen Fußballs ist. Ausgerechnet dieser Verein könnte die Galionsfigur einer europäischen revolutionären Bewegung sein. Ein Verein, verwurzelt in einer der ärmsten Städte Englands. Die Reds sollten ihr Stadion den Leuten öffnen, die diesen Verein ausmachen. Arbeiter. Arme Leute.

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